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Eine ukrainische Familie erzählt von ihrer Flucht aus Odessa

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Von: Kristin Sens

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Geflüchtete Familie Ukraine Brilon
Die Schwestern Kateryna Reizvikh und Inna Burmus sind mit Innas Tochter Hanna Zelenina, ihren Söhnen Tymur, Daniil und Vitali sowie Enkel Anton aus Odessa geflohen. In Canstein haben sie bei Hanne und Leo Wielaard Zuflucht gefunden. Beim Begrüßungscafé in der Alten Propstei hatten sie Gelegenheit, sich mit anderen ukrainischen Flüchtlingen auszutauschen. © Kristin Sens

„Es ist Krieg – wir müssen helfen.“ Das war der erste spontane Gedanke von Hanne und Leo Wielaard aus Canstein. Sie riefen sofort bei der Stadt Marsberg an und erklärten sich bereit, ukrainische Geflüchtete aufzunehmen – da war der Krieg erst ein paar Tage alt. Mitte März traf, nach tagelanger Reise, eine Familie aus Odessa bei ihnen ein, insgesamt sieben Personen.

Marsberg – Kateryna Reizvikh und Inna Burmus sind Schwestern. Gemeinsam mit Innas Tochter Hanna Zelenina, ihren Söhnen Tymur, Daniil und Vitali sowie Enkel Anton verließen sie am 6. März Odessa. „Die ganze Zeit fielen Bomben“, berichtet Kateryna, ständig war Alarm. Auch wenn zunächst eher die militärische Infrastruktur das Ziel war und ihre Luftabwehr gut funktioniert habe, fühlten sich die Frauen nicht mehr sicher. Sie hatten vor allem Angst um ihre Kinder. „Wir wollten nicht gehen. It was very hard and we were crying all the time“, erzählt Kateryna in Englisch und mithilfe einer Übersetzungsapp. Die Ehemänner und Eltern blieben in Odessa zurück.

Flucht mit dem Auto

Ein Freund gab ihnen sein Auto, sodass sie die Stadt verlassen konnten. Einen Tag brauchten sie, um nach Rumänien zu kommen. Ein langer Stau hatte sich am Grenzübergang gebildet. Quer durch Ungarn, die Slowakei und Tschechien gelangten sie schließlich nach Deutschland. Geplant war das nicht, aber Freunde von ihnen wollten nach Deutschland, da schlossen sie sich an.

Am 14. März kamen sie in Canstein an. „Wir kannten niemanden“, so Kateryna. Deshalb seien sie Hanne und Leo sehr dankbar, dass sie sie so herzlich aufgenommen hätten. Inzwischen finden sie sich schon so weit zurecht, dass sie alleine einkaufen gehen können, die Kinder gehen in die Schule und die Frauen warten darauf, an einem Sprachkurs teilnehmen zu können.

Ein „Spaziergang“ war der Weg bis dahin nicht. Wer sich die Strecke einmal auf der Karte vergegenwärtigt, kann nur erahnen, wie aufreibend die Flucht ins Ungewisse, zu siebt in einem engen Auto, für sie gewesen sein muss. Auch das Leben hier ist eine Umstellung. In ihrer Heimat haben sie am Rand einer Millionenstadt gelebt, hier finden sie sich mitten auf dem Land wieder. Odessa liegt am Meer, umgeben von weiten Ebenen mit Feldern. Hier sind es Berge und Wälder. Und dann die fremde Sprache und Kultur. Vor allem aber die Ungewissheit und Sorge um die Heimat und ihre Familien und Freunde dort. Inzwischen haben sie gehört, dass auch Wohngebiete bombardiert wurden. Sie haben große Angst, dass Odessa das gleiche Schicksal wie Mariupol erleiden könnte.

Wir dachten, der Krieg währt nur kurz und wir können bald wieder nach Hause. Aber wenn er länger dauert, müssen wir hier neue Perspektiven entwickeln.

Kateryna Reizvikh, Inna Burmus und Hanna Zelenina

„Wir dachten, der Krieg währt nur kurz und wir können bald wieder nach Hause. Aber wenn er länger dauert, müssen wir hier neue Perspektiven entwickeln“, erklären die Mütter. Ob sie dann Arbeit in ihren gelernten Berufen finden, ist ungewiss. Dafür müssten sie gute Deutschkenntnisse haben. Kateryna hat in einer Bank gearbeitet, Inna in der Buchhaltung und Hanna bei der Einwanderungsbehörde.

Schulbesuch

Der 14-jährige Tymur erzählt, dass er in der Schule freundlich aufgenommen worden ist. Die Lehrer und Mitschüler seien sehr nett und alle würden versuchen, ihm zu helfen. Voller Stolz erzählt er aber auch, dass sie in Mathe in der Ukraine schon viel weiter gewesen seien. „It’s easy“, sagt er selbstbewusst. Kein Wunder, Mathe ist sein Lieblingsfach.

Sein gleichaltriger Cousin Daniil, der mit seinem Zwillingsbruder Vitali in eine andere Klasse geht, berichtet ebenfalls von hilfsbereiten Klassenkameraden, einige sprächen sogar Russisch: „Sie helfen uns dabei, uns an das Schulleben zu gewöhnen.“ Der Schulalltag lenkt zudem etwas von den Sorgen ab.

Der Abschied von Odessa war für alle schrecklich. „Ich hatte große Angst und war sehr traurig, dass wir wegmussten“, erinnert sich Daniil. Umso dankbarer sind sie für die Hilfe, die sie hier erfahren, besonders von ihrer Gastfamilie. „Die Menschen in Deutschland sind sehr gastfreundlich“, findet Daniil. Für Hanne und Leo war es eine Herzensangelegenheit. Sie sind selbst erst vor vier Jahren aus den Niederlanden nach Canstein gezogen. Sich fremd zu fühlen und neu anzufangen, das kennen sie noch aus eigener Erfahrung.

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