Er fährt noch schnell beim Bäcker am Bahnhof Finnentrop vorbei. Ein belegtes Brötchen, einen Kaffee und eine Cola für den Tag. Es ist kurz vor Sonnenaufgang, halb sieben morgens, als der Mann hinterm Steuer auf der Bundesstraße zwischen Finnentrop und Lenhausen plötzlich zwei Mal niesen muss.
Von den folgenden Minuten weiß er nichts mehr. Es ist, so wird er später sagen, als hätte jemand das Licht ausgeschaltet.
Nur wenige Augenblicke zuvor und ein paar Kilometer entfernt im Rönkhauser Ortsteil Glinge startet eine 17-jährige junge Frau den Motor ihres Kleinkraft-Motorrades. Hinter ihr nimmt ihre gleichaltrige Cousine Platz. Die beiden machen sich auf den Weg zur Schule in Altenhundem.
In Lenhausen fällt derweil einem 20-jährigen Autofahrer ein Ford Ranger vor ihm auf, der jetzt in Schlangenlinien über die Hauptstraße gelenkt wird. Am Steuer sitzt der Mann, der nicht mehr Herr seiner Sinne ist. Der Augenzeuge hinter ihm betätigt die Lichthupe, will sogar gehupt haben. Die Lichthupe scheint in Höhe des Ortsausgangs Lenhausen Wirkung zu zeigen. Die Spur wird für sein Empfinden wieder gerader.
Die beiden jungen Frauen haben unterdessen Rönkhausen passiert. Sie fahren gerne morgens mit dem Krad zum Gymnasium der Stadt Lennestadt – kurz Gymsl –, auf dem sie auf dem Weg zum Abitur sind. Die Eine weiß schon genau, dass sie nach der Schule ins Ausland möchte, vielleicht in die USA. Ihre beste Freundin und Cousine möchte lieber eine Ausbildung machen und bleiben, hier bei ihren Freunden, bei ihrer Familie, hier in ihrem Heimathafen.
Sie ahnen nicht, dass auf der Gegenspur ein zehn Mal so schwerer Pick-Up unterwegs ist, dessen Fahrer nicht mehr in der Lage ist, seinen Wagen zu steuern. Noch immer ist der Mann auf dem Fahrersitz, der sich nach dem zweifachen Niesen an nichts mehr erinnern kann, mindestens in seinem Bewusstsein getrübt. Sein Wagen rumpelt nach der langgezogenen Linkskurve hinter dem Ortsausgang Lenhausen über den Straßenrand, dann wieder zurück auf die Fahrbahn und rollt schließlich auf die Gegenfahrbahn.
In diesem Augenblick muss der Fahrer wieder zu sich gekommen sein. Er sieht nur noch die Scheinwerfer eines Kleinkraftrades, versucht nach links in die Leitplanke zu lenken, aber es ist zu spät. Die beiden jungen Frauen bremsen, versuchen ebenfalls auszuweichen. Aber sie haben keine Chance. Der Zweieinhalb-Tonnen-Truck trifft sie mit voller Wucht.
Ein Gutachten wird später ergeben, dass der Ford Ranger beim Aufprall 63 km/h auf dem Tacho hatte, das Moped zwischen 35 und 46 km/h. Auf die jungen Frauen müssen Kräfte von 26 bis 31g gewirkt haben – sie flogen meterweit durch die Luft.
Mehrere Autofahrer hinter den Unfallbeteiligten steigen aus, alarmieren die Polizei. Sie versuchen den jungen Frauen zu helfen, aber einer von ihnen ist nicht mehr zu helfen. Die andere hat zumindest noch Puls. Es sind schreckliche Bilder.
Eine Augenzeugin, eine 53-jährige Finnentroperin, schaut nach dem Unfallfahrer im Ford Ranger. Bewegungslos sitzt er auf dem Fahrersitz. Zwei Mal muss sie ihn ansprechen, bis er zusammenzuckt. Sie hilft ihm aus dem Wagen, setzt sich mit ihm auf die Leitplanke. „Ich weiß nicht, wie es passieren konnte“, sagt der Mann immer wieder und bittet die Dame, ihm die Cola aus seinem Auto zu holen, die er dann in mehreren Schlücken leertrinkt.
Er weiß zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass die 17-jährige Fahrerin des Krads noch an der Unfallstelle verstorben ist und ihre Cousine mit lebensgefährlichen Verletzungen ins Krankenhaus gebracht wird. Er selbst wird auch mit dem Rettungswagen ins Krankenhaus gefahren. Dort führt ein Arzt auf Anordnung der Polizei eine Blutprobe durch. Alkohol? Drogen? Nichts von beidem wird gefunden. Auch die beiden Handys, die im Auto gefunden wurden, werden geprüft. Ergebnis: Sie sind während der Fahrt nicht genutzt worden.
In Rönkhausen verbreitet sich die Nachricht von dem Unfall rasend schnell. Noch am Abend treffen sich Freunde und Mitschüler am Rand der stark befahrenen Bundesstraße, um zu trauern. Die Eltern der beiden jungen Frauen erwischt die Nachricht eiskalt. Der Vater der Fahrerin kämpft in der Folge mit vielfältigen seelischen Problemen; er fühlt sich um die Zeit mit seiner Tochter betrogen. Die Mutter spürt eine riesige Leere und vergießt unendlich viele Tränen. Ebenso ergeht es Mutter und Vater der Sozia. Sie hoffen und bangen, dass die Mediziner auf der Intensivstation das Leben ihrer Tochter retten können, doch sechs Tage nach dem Unfall hört auch ihr Herz auf zu schlagen.
Die Beisetzung erfolgt im Trostwald in Balve. Danach treffen sich Freunde mit den Eltern in deren Garten in der Glinge, um noch einmal gemeinsam Abschied zu nehmen. Hier stehen nun auch zwei Bäume, die an die beiden „Rönkser Mädels“, wie die in der Todesanzeige des TV Rönkhausen bezeichnet werden, erinnern.
Weitere Gedenkstätten entstehen darüber hinaus im Wald oberhalb des Ortes. Eine Bank mit Ausblick auf den Sportplatz sowie auf dem Gelände des Lennestädter Gymnasiums.
Der Unfallfahrer wird in den Tagen nach den schrecklichen Ereignissen erst im Plettenberger, danach im Olper Krankenhaus behandelt und untersucht. Es werden, so wird er später erzählen, „diverse Mängel an den Werten festgestellt“. Der Sauerstoffwert ist viel zu tief, dem Körper fehlt Cadmium, auf der Lunge werden Schatten entdeckt. Der Blutzuckerwert wurde unmittelbar nach dem Unfall von der Rettungswagen-Besatzung gemessen. Er lag bei 81 – ein zumindest für gesunde Menschen völlig normaler Wert.
Die schrecklichen Bilder des Unfalls spielen sich immer wieder vor seinem geistigen Auge ab. Er begibt sich in psychiatrische Betreuung und ringt mit sich, ob er Kontakt zu den Familien der Getöteten aufnehmen soll. Doch er befürchtet, nicht die richtigen Worte zu finden.
Die Eltern der verstorbenen Sozia bereiten ihm schließlich den Weg. Sie schreiben ihm einen Brief, nach dem er den Mut findet, beiden Familien zu schreiben. Sie antworten, bitten um ein persönliches Treffen. Darauf geht er ein. Wenn man ihn fragt, wie es war, antwortet er: „Schlimm. Ich hatte das Gefühl, dass mir die Eltern mehr Trost geben konnten als ich ihnen.“
Die Staatsanwaltschaft Siegen bringt den Unfall schließlich zur Anklage. Fahrlässige Tötung lautet der Vorwurf, in dem es um die Frage geht: Hätte der Mann den Unfall verhindern können?
Anderthalb Jahre nach den Ereignissen – im Januar dieses Jahres – soll der Prozess vor dem Amtsgericht Lennestadt durchgeführt werden, doch die Corona-Regeln lassen die Verhandlung nicht zu. Der zweite Versuch Anfang Mai platzt, weil der Richter coronainfiziert ist. Und so ist es der Dienstag dieser Woche, an dem sich der Unfallfahrer und die Eltern noch einmal in die Augen blicken.
Die Zuschauerreihen in Saal 6 des Amtsgerichts in Grevenbrück sind fast bis auf den letzten Platz gefüllt, als der Angeklagte im schwarzen Hemd und mit gesenktem Kopf auf der Anklagebank Platz nimmt. Zwei Kameramänner, die bislang ihre Linsen minutenlang auf die Eltern der Opfer gerichtet haben, schwenken sofort auf den Beschuldigten. Mehrere Journalisten und Schreiber machen Handyfotos, ein Zuschauer kommentiert: „Was für ein Gewusel.“
Als Richter Edgar Tiggemann den Saal betritt und die Verhandlung eröffnet, kehrt Ruhe ein. Die Staatsanwaltschaft verliest die Anklageschrift. Die Augen des Beschuldigten werden gläsern. Er erzählt die Ereignisse, wie sie sich für ihn dargestellt haben, gerät mehrmals ins Stocken, weil ihn die Tränen übermannen. Mit Blick auf das plötzliche Wegtreten am Steuer fragt ihn der Richter: „Ist Ihnen so etwas vorher schon mal passiert?“
„Nein, noch nie“, sagt der Beschuldigte. Normalerweise kenne er seine Symptome für eine Unterzuckerung und könne reagieren: den Wagen rechts ranfahren, eine Cola trinken. Aber diesmal sei alles anders gewesen.
Der erste Zeuge wird hereingerufen: ein 22-Jähriger aus Grömitz, der an jenem Tag auf dem Weg zu einem Lehrgang nach Arnsberg war. Weil er derjenige war, der den Unfallfahrer mit der Lichthupe auf dessen Schlangenlinien-Fahrt aufmerksam machte, wollen Richter und Anwälte alle Details von ihm wissen. Nur: Er sagt mehrfach, dass er sich nicht mehr an die Details erinnern könne. Viele Sätze beginnen mit „Ich glaube; ich denke“ und enden mit „aber ich weiß es nicht zu hundert Prozent“. Auch ihm fließen die Tränen. Damals war er 20, als er die schrecklichen Bilder des Unfalls mitansehen musste.
Zwei weitere Zeugen – die 53-jährige Finnentroperin, die dem Unfallfahrer geholfen hat und ein weiterer, 55-jähriger Augenzeuge aus Finnentrop – schildern im Anschluss ihre Erinnerungen. Die beiden Polizisten, die den Mann unmittelbar nach dem Unfall befragt haben, kommen zu Wort. Das verkehrsanalytische Gutachten mit vielen Zahlen wird verlesen.
Dann ist Rechtsmedizinerin Dr. Katharina Jellinghaus an der Reihe. Von ihren Einschätzungen hängt das Urteil maßgeblich ab. Sie sagt, dass es „sehr wahrscheinlich“ sei, dass der Beschuldigte „eine Bewusstseins-Trübung aufgrund einer plötzlich eingetretenen Unterzuckerung“ erlitten hat. Der Fachausdruck dafür: eine Hypoglykämie.
Wie man sich so eine Bewusstseins-Trübung vorstellen müsse, will der Richter wissen. Man nehme keine visuellen und akustischen Reize mehr wahr, antwortet Dr. Jellinghaus. Man habe sozusagen einen Tunnelblick, agiere wie ein Betrunkener, der zwar automatisierte Prozesse wie Gasgeben und Bremsen noch hinbekommt, aber mehr auch nicht. „Es kann auch sein“, ergänzt Dr. Jellinghaus, „dass die Unterzuckerung erst so spät bemerkt wird, dass man nicht mehr rechtzeitig zur Cola greifen kann.“
Der Richter bohrt weiter, weil der Unfallfahrer ja nach eigener Aussage unmittelbar vor dem Zusammenstoß wieder zu sich gekommen war. „Kann so eine Bewusstseins-Trübung plötzlich weg sein?“
Dr. Jellinghaus: „Das halte ich durchaus für möglich, auch wenn es nicht der Normalfall ist.“ Auch eine kurze Bewusstlosigkeit – eine Synkope – könne nicht ausgeschlossen werden.
Richter Tiggemann: „Also kann so etwas passieren?“
Dr. Jellinghaus: „Ja, es kann passieren.“
Stille. Ein Blutzuckerwert von 97, das Spritzen von Langzeit-Insulin am Morgen, danach eine Autofahrt zur Arbeit – „das machen Millionen Diabetiker in ganz Deutschland so“, ergänzt Dr. Jellinghaus.
Mit diesen Worten geht es in die Plädoyers. Die Staatsanwältin stellt sich die entscheidende Frage des Prozesses, nämlich diese: „Hätte der Beschuldigte erkennen können, dass er eine Unterzuckerung erlitt und so den Unfall verhindern können?“ Sie meint nach dieser Beweisaufnahme: Nein. Ihre Forderung: Freispruch.
Ebenso argumentiert Rechtsanwalt Schmidt auf Seiten der Verteidigung. „Für das Strafrecht braucht es ein Verschulden, daher: Hätte mein Mandant das Unfallereignis vorhersehen können?“ Auch hier ein Nein und eine Freispruch-Forderung.
Der Anwalt der Eltern auf der Nebenklagebank, Ralf Bartmeier, fordert „mindestens eine Geldstrafe“ und „es scheint mir angezeigt, die Fahrerlaubnis für ein Jahr zu entziehen“. Er sieht angesichts der Aussage des 22-jährigen Zeugen, nach dessen Worten der Unfallfahrer nach der Lichthupe wieder gerader gefahren sei, „zweifelsfrei ein bewusstes Fahrmanöver festgestellt“. Auch dass der Mann unmittelbar nach dem Unfall nach einer Cola verlangt habe, sei ein Indiz dafür, dass der Beschuldigte genau wusste, worauf der Unfall zurückzuführen sei. Und er richtete auch den Blick auf die Folgen dieses Unfalls, der die Eltern „erbarmungslos“ getroffen und ihre Leben verändert habe. „Es war für alle Vier der Albtraum, der Worst Case, der Super-GAU.“
Dem Angeklagten gehört das letzte Wort. Mehrere Sekunden benötigt der junge Mann, ehe er etwas sagt: „Ich würde gerne, aber mir fehlen tatsächlich gerade die Worte.“ Nach einer weiteren Pause fügt er unter Tränen hinzu: „Ich möchte mich gerne bei beiden Familien aufrichtig entschuldigen.“ Er wünsche sich, dass es eine Erklärung dafür gäbe. „Aber es gibt sie leider nicht.“
Danach: wieder Stille. Richter Tiggemann schreibt etwas auf, blättert in den Akten. Drei Minuten vergehen. Dann erhebt er sich und mit ihm alle Personen in diesem Saal.
„Im Namen des Volkes ergeht folgendes Urteil: Der Angeklagte wird freigesprochen.“
Eine junge Frau, die dem Beschuldigten wenig später als erstes in die Arme fallen wird, bricht in Tränen aus. Es sind Tränen der Erlösung.
Richter Tiggemann argumentiert: „Dieser Fall ist das Schlimmste, das passieren kann. Der Angeklagte hat zwei junge Frauen totgefahren. Das muss man so festhalten.“ Diese Konstellation kenne nur Geschädigte. Auch auf der Anklagebank sitze ein Opfer. Eine Fahrlässigkeit sehe er in diesem Fall nicht als gegeben an. Richter Tiggemann wiederholte dazu die Aussage der Rechtsmedizinerin: „Jeder Diabetiker muss damit rechnen, dass ihm so etwas passieren kann.“ Und er ergänzt: „Wie können wir so etwas verhindern? Es gibt darauf keine Antwort.“
Als Richter Tiggemann die Verhandlung beschließt, folgen auf beiden Seiten viele Umarmungen des Trostes. Dieses Kapitel der Aufarbeitung ist vorbei – für den Moment zumindest. Denn natürlich besteht die Möglichkeit, Revision gegen das Urteil einzulegen.
Nebenklage-Anwalt Bartmeier bespricht sich vor dem Saal kurz mit den Eltern, dann sagt er gegenüber dem Sauerlandkurier: „Es ist eine vertretbare Entscheidung, auch wenn die Eltern sicher etwas anderes erwartet hätten.“ Gleichwohl habe die Verhandlung dazu beigetragen, „das alles auch seelisch verarbeiten zu können“. Ob sie Revision einlegen wollen, werde man nun noch besprechen, sagt Bartmeier.
Die Rechtsfrage nach der Schuld beziehungsweise Nicht-Schuld ist nun vorerst beantwortet. Zivilrechtlich läuft derweil noch ein Prozess, in dem es um Schadensersatzansprüche geht – auch wenn Geld in diesem Fall für nichts entschädigen kann.
Zwei junge Leben, Träume, Hoffnungen sind an jenem 21. September 2020 ausgelöscht worden. Viele weitere Leben haben sich verändert. Es war ein Tag, der nur Opfer hinterlassen hat.