Welche Kapitel-Zeile („und dann lässt sie los“) einen auch anspricht, Anfang oder Ende gibt dieses Buch nicht vor. Rosa Both (Innsbruck) spürt in nur zwei Strophen ein Daseinsgefühl auf, welches irgendwann Menschen befällt, die sich bewusst werden, was Ortswechsel über Jahrzehnte mit dem eigenen Lebensmittelpunkt machen – „Mittleres Glück“. Ein weiterer Lebensabschnitt wird im Kapitel „Mir geht die Flugsalbe aus“ – ein Gedicht von Katharina Schultens – aufgegriffen. Iris Schmidt (Düsseldorf/Hamm) durchdringt ein typisches Familienschicksal im Ruhrgebiet. Die „Hundskamille“ dient ihr als Bild für eine Hoffnung, die nicht duften will. Mit sprachlicher Emphase fegt sie kindlich wie unbeschwert über „Ruß und Staub“, „Tod“ und „Zeche“ hinweg. Eine berührende wie kompromisslose Aufrechnung der Fakten.
Auch Andreas Hutt (Marburg) erinnert sich. Seine Kindheit fühlt sich nach „Streuobst“ und „Sommer“ an, nach einer Gegenwelt zu heutigen Aufregern „von der abwesenheit des waldes wurde nichts gesagt“. Das Gedicht bietet Platz für irreale Zeitverschiebungen.
Was uns immer wieder beschäftigt, wird zugänglich gemacht: Heimat. Christoph Wenzel (Aachen) ist gleich mit zwei Texten vertreten. Er steckt parzellierte Seelenlandschaften im Gedicht „Angstgärten“ ab. Dünne „Nutzschichten“ sind ausgelegt, ohne Sicherheit zu schaffen. Wo gewohnt und gearbeitet wird, dominiert ein Ordnungsgeist, der an behördliche Maßnahmen erinnert. Es sind nüchterne Erkenntnisse – nicht neu, aber knapp und trefflich gefasst.
Sachlich und umsichtig gehen die meisten Autoren ihre Themen an. Mirko Bonné (Hamburg), der mit dem Gedicht „Nachtöffnung“ vertreten ist, hatte bereits 2019 geschrieben, dass „die Blütezeit des Prosagedichts“ gekommen sei. Die Herausgeberin Carolin Callies, Autorin und Literaturvermittlerin aus Heidelberg, zitiert den Schriftsteller, Erzähler und Dichter in ihren „Nachbetrachtungen“. Callies, Jahrgang 1980, erhielt 2015 für ihren ersten Gedichtband „fünf sinne & nur ein besteckkasten“ den Thaddäus-Troll-Preis. Sie hat zahlreiche Resümees und Zitate aus den Jahrbüchern der vergangenen Jahrzehnte ausgewählt.
Auch 2021 sind gereimte Verse uncool. Versfuß und Metrum scheinen gänzlich diskreditiert und vergangenen Epochen zugeordnet. Erklingen Reime nur noch im klassischen Lied, bei Rap-Musik, Schlager und der Radiowerbung?
„Es gibt kaum noch ordentlichen Kitsch. Dafür aber stapelweise Sachen, die mich vollkommen ratlos zurücklassen“, schreibt Thomas Rosenlöcher (Dresden) 1992. Der Stipendiat der Deutschen Akademie (Villa Massimo, Rom) hatte wie Mirko Bonné als Mitherausgeber am Jahrbuch gearbeitet. Heute zählt er zu den zahlreichen Autoren des Jahrbuchs, die ihren Weg gemacht haben.
Herausgeber Christoph Buchwald hatte bereits 1979 das erste Jahrbuch verantwortet. Der Liebhaber dieser Textsorte hält fest, dass heutzutage nicht mehr einfach drauflosgeschrieben werde und lyrische Traditionen bekannt seien. Außerdem sei das Gedicht nicht mehr am Politischen orientiert, es misstraue ideologischen Positionen und sei ein Ort für Selbsterfahrung geworden.
Egotrip und Privatvergnügen? Wenn beispielsweise eine so wuchtige Selbstbeschau wie die von Verica Trickovic (Isernhagen bei Hannover) in „FREMD/W/ORT / 1“ vorgenommen wird, dann lässt sich daran partizipieren. Ihr ambivalentes Erlebnis im Fremden, ob Wort oder Ort, birgt Unsicherheit. Selbstwert und Identität stehen unter Druck. Trickovic macht eine Erfahrung nachvollziehbar. Außerdem ist ihr Text über zwei Seiten gesetzt. Ist das schon ein Kalligramm, ein Bildgedicht?
Das 35. Jahrbuch ist ein besonderes geworden. Christoph Buchwald (69) schließt damit seine über 40 Jahre währende Arbeit an dem Format ab. Es war nicht immer leicht. 66,2 Kilogramm Gedichte kamen zur Auswahl 2004 zusammen. Die Masse sorgte auch für Verzweiflung, wenn das Gedicht nicht den „Erkenntnischarakter“ aufweist, wie von Theodor W. Adorno 1987/88 gefordert. Oder wenn Verse auf der „Eitelkeitswiese von schreibenden Studienräten in Gesundheitsschuhen“ entstanden seien, wie Christoph Buchwald sich einmal beschwerte. Nun bietet er Kriterien an, die als „Handreichung für Gedichteleser“ im Jahrbuch aufgeführt sind. Aufschlussreich.
Wie auch immer, das Gedicht bewegt, strapaziert und überrascht. Künftig wird Matthias Kniep (Berlin) das Jahrbuch herausgeben. Kniep, 1971 in Itzehoe geboren, verantwortet im Berliner „Haus der Poesie“ das Programm. Er übersetzt Lyrik aus dem Englischen und Ungarischen. Wie der Verlag Schöffling und Co. mitteilte, wird Kniep die kommende Anthologie zusammen mit Nadja Küchenmeister realisieren. Die Berliner Autorin, Jahrgang 1981, hat bisher drei Lyrikbände veröffentlicht, zuletzt „Im Glasberg“ (2020).
Dass eine Lyrikerin im deutschsprachigen Raum so viel Resonanz erfährt wie Amanda Gorman („The Hill We Climb“) zur Amtseinführung von US-Präsident Joe Biden in Washington, kann nicht erwartet werden. Lyrik hat hierzulande nur eine leise Stimme. Aber immerhin gibt es das „Jahrbuch der Lyrik“, das seit 2017 im Verlag Schöffling & Co. erscheint. Die Ausschreibung für 2022 läuft. Und zum 23. April plant der Verlag eine lange Nacht der Lyrik im Netz.
Christoph Buchwald, Carolin Callies (Hgg.): Jahrbuch der Lyrik. Verlag Schöffling & Co., Frankfurt. 256 S.,
22 Euro