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Das Landesmuseum in Münster stellt die Fotografin Annelise Kretschmer vor

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Von: Ralf Stiftel

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Porträt der Opernsängerin Ellice Illiard von Annelise Kretschmer 1930/31
Das Porträt der Opernsängerin Ellice Illiard nahm Annelise Kretschmer 1930/31 auf. Zu sehen ist es in der Ausstellung „Der Augenblick“ im Landesmuseum in Münster. Foto: LWL © LWL / Hanna Neander ©Nachlass Annelise Kretschmer, LWL Museum für Kunst und Kultur, Münster

Münster – Ellice Illiard hat den Kopf auf ihre Hand gebettet. Aber ihre offenen Augen suchen den Blick des Betrachters. Als Annelise Kretschmer 1930 die Opernsängerin fotografierte, machte sie ihr Modell nicht zum Objekt, obwohl sie ihr nahekommt bis hin zur Intimität. Man denkt dabei an eine ikonische Aufnahme, die der Surrealist Man Ray 1924 von Kiki de Montparnasse machte. Da liegt der Kopf auch auf der Seite. Aber der Fotograf zeigt die nackte Frau, als ob sie schliefe. Ihre Hand ruht auf einer afrikanischen Maske. Eine surreale Männerfantasie. Kretschmer hingegen zeigt Illiard als selbstbestimmtes Gegenüber.

Der Modernität von Annelise Kretschmer begegnet man im Landesmuseum für Kunst und Kultur in Münster. Dort bietet die Ausstellung „Der Augenblick“ den bislang umfangreichsten Überblick über das Schaffen der Dortmunder Fotografin (1903–1987). Spät erst wurde die Qualität dieses Werks erkannt, die mehr als 50 Jahre lang in ihrer Heimatstadt ein Studio betrieb. 1982 richtete Ute Eskildsen eine erste Einzelausstellung im Essener Museum Folkwang aus. Vor fünf Jahren folgte eine weitere Übersichtsausstellung mit Stationen in Köln, Bremen und Iserlohn. 2018 erwarb der Landschaftsverband Westfalen-Lippe den Nachlass der Künstlerin. So kamen 2600 Abzüge und mehr als 13 000 Negative ins Landesmuseum. Tanja Pirsig-Marshall, Anna Luisa Walter und Stephan Sagurna haben diesen reichen Bestand gesichtet und die Schau kuratiert. Sie vermittelt mit mehr als 200 Exponaten ein facettenreiches und eigenständiges Werk.

Es gibt immer wieder überraschende, überwältigende Aufnahmen. Schon die Bilder eines Paris-Aufenthalts 1928 zeugen von einem eigenwilligen Blick. Sie fotografiert den Schatten von Bäumen auf einer Hausfassade. Suggestiv hält sie die Regentropfen auf einer Fensterscheibe fest, spielt mit der Schärfe vorn und der schemenhaft durchscheinenden Stadt in der Tiefe des Raums. Sie nimmt die Metropole nicht touristisch auf, sondern sucht den besonderen visuellen Moment, der auch in der Aufnahme von Stühlen im Sonnenlicht und ihren Schatten liegen kann.

In ihren Modeporträts griff sie das Bild der modernen Frau auf. In ihrem Selbstporträt von 1929 hält Annelise Kretschmer eine Zigarette. Es gibt eine Reihe von solchen Aufnahmen, auf vielen sieht man die Kamera, ihr Arbeitsgerät. In der „Modefotografie“ von 1929 lacht uns eine junge Frau durch ein Fenster an. Hinreißend das „Damenbildnis in chinesischem Kleid“ (1930), bei dem sie die Malerin Anette Engelmann auf einem Seidentuch ein üppig gemustertes Kleidungsstück präsentieren lässt. Es ist kein Zufall, dass sie so viele Frauen porträtierte. Wie oft sieht man ein Foto aus den 1950er Jahren wie Kretschmers Aufnahme der HNO-Ärztin Frau Dr. Mentler im Kittel in ihrer Praxis?

Sie fotografierte in Schwarz-Weiß, und sie setzte nur natürliches Licht ein. So nutzte sie in ihrem Atelier Spiegel, um Modelle auszuleuchten. Bei einem Porträt von Ilona Sinappo (um 1969) sieht man ihre Tochter Christiane von Königslöw, die mit dem Spiegel Licht auf das Gesicht des Modells lenkt. Licht und Schatten sind Leitmotive in Kretschmers Arbeit. So fotografiert sie den Schatten ihrer Tochter Christiane (um 1958). Ein anderes Bild zeigt den Schatten eines aufgestützten Frauenkopfs, der auf einen Blumentopf fällt.

In der Schau gibt es auch Äußerungen von Kretschmers Kunden. Christa Riepe erzählt, wie schnell sie arbeitete: „Sie kam rein, war immer gleich fotografierfähig und fragte erst gar nicht.“

Diese Spontaneität schlug sich in den Bildern nieder. Kretschmer rückte ihren Modellen nah, zeigt Oberkörper oder Gesicht in engen Ausschnitten. Sie wählte oft auch nicht die Frontalansicht, sondern das Profil. Extrem das Bild „Frau mit Hut“ (1930), die sie von hinten zeigt vor einem Renaissance-Gemälde. Eine souveräne Komposition bringt hier das aktuelle Modell mit der Dame des alten Meisters zusammen. Die ungewöhnliche Perspektive führt sie zu originellen Lösungen wie bei der Hochzeit einer Dortmunder Unternehmertochter, die sie von hinten auf der Treppe zeigt (1960er Jahre). Das Licht hebt die Spitzen des Brautschleiers hervor, unten sieht man unscharf ein Paar.

Porträts bekommen bei Kretschmer eine analytische oder erzählerische Qualität. Man schaue nur auf ihre Aufnahme des Fotografen Albert Renger-Patzsch (1962), dessen prägnante Nase sie im Profil hervorhebt, ein Adlerblick in die Ferne. Oder das Bild des Chefkurators des Louvre, François Mathey (1959), der zwar den Kopf zur Seite gedreht hat, aber aus den Augenwinkeln durch die dicken Brillengläser den Kontakt zur Kamera sucht.

Wie eine Filmszene wirkt das „Bildnis eines Ehepaars“ (o.J.). Die Frau trägt einen Hut mit Schleier und blickt im Halbprofil nach vorn. Der Mann steht hinter ihr, und es sieht aus, als wolle er ihr im nächsten Moment etwas ins Ohr flüstern, was dem Bild eine wunderbare Spannung verleiht.

Und sie fotografierte auch Kinder auf Augenhöhe. Für das Bildnis des Mädchens mit Haarklammer (o.J.) wählte sie eine ähnliche Pose wie bei Erwachsenen, sie zeigt das Antlitz aufgestützt auf die Arme.

Annelise Kretschmer führte auch ein für ihre Zeit ungewöhnlich emanzipiertes Leben. Ihre Eltern Julius und Laura Silberbach führten ein gut gehendes Modehaus. Der Lebensstil der Familie war freizügig, die Kinder konnten ihre Lebenswege frei wählen. Kretschmer entschied sich für die Fotografie. 1922 reiste sie mit ihrem Bruder nach Nordafrika. Dort entstanden erste Aufnahmen, von denen Beispiele in Münster gezeigt werden, zum Teil als aufwendige brauntonige Bromöldrucke, die eine malerische Anmutung haben. Danach begann sie ein Volontariat im Atelier des Essener Fotografen Leon von Kaenel. 1924 wechselt sie nach Dresden zu Franz Fiedler. Sie veröffentlicht regelmäßig Fotos in Illustrierte und Zeitschriften. 1928 heiratet sie den Bildhauer Sigmund Kretschmer. Der war beruflich offenbar nicht sehr erfolgreich, jedenfalls eröffnete Annelise 1929 ihr Studio, während ihr Mann sich um die Kinder kümmerte. Bis in die späten 1930er Jahre unterstützen die Eltern die Familie.

1933 bedeutete einen tiefen Einschnitt für die Fotografin. Ihr Vater war zwar zum evangelischen Glauben übergetreten, aber Jude. Darum wurde Kretschmer aus der Gesellschaft Deutscher Lichtbildner ausgeschlossen. Anonyme Täter beschmierten den Schaukasten ihres Ateliers. Aber sie konnte trotzdem weiter arbeiten, offenbar schätzten selbst NS-Funktionäre ihre Arbeit. So konnte sie Passbilder für Soldaten anfertigen und (widerwillig) auf Parteiveranstaltungen fotografieren.

Mit dieser Ausstellung bekommt Kretschmer endlich den großen Auftritt, den ihre Arbeit verdient.

Bis 14.8., di – so 10 – 18 Uhr, Tel. 0251/ 5907 201, www.lwl-museum-kunst-kultur.de,

Katalog, Wienand Verlag, Köln, 29 Euro

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