Die Essener Ausstellung „Image Capital“ zeigt Fotografie als Technologie

Essen – Um 1960 stand die Aperture Card für die Zukunft der Speichertechnik. Auf einer Lochkarte wurden Daten gespeichert, ein eingearbeitetes Negativ verwahrte zusätzliche Informationen, zum Beispiel einen Konstruktionsplan. Kompakter konnte man damals Daten nicht aufbewahren. Fotografie nahm eine Schlüsselrolle ein. Ein Werbeslogan der Firma Kodak brachte es auf den Punkt: „Wenn Sie kein fotografisches Gedächtnis haben, besorgen Sie sich eins.“ In einem Zeitschriftenartikel von 1945 über ein Projekt des Ingenieurs Vannevar Bush bekommt man einen Eindruck davon. Eine Kamera an einem Stirnband sollte festhalten, was der Mensch sieht. Nichts vergessen, eine technische Erweiterung des Denkvermögens.
Ein Foto erinnert im Museum Folkwang an die Aperture Card, die einmal Avantgarde war. In der Ausstellung „Image Capital“ geht es einmal nicht darum, Positionen künstlerischer Fotografie zu präsentieren. Vielmehr werden Geschichte und Gegenwart der Fotografie als Informationstechnologie vorgestellt. Es geht darum, wie Fotografie in Industrie und Wirtschaft operativ eingesetzt wird. Was zunächst etwas abstrakt klingt, erweist sich als spannender Ausstellungs-Essay. Erarbeitet haben ihn die Basler Fotohistorikerin Estelle Blaschke und der Berliner Fotograf Armin Linke. Mit rund 100 Exponaten, von großen Fototafeln über historische Dokumente bis zu Video-Interviews werden Arbeitsfelder beleuchtet, die zum Teil tief in unseren Alltag eingreifen. Sechs Kapitel füllen jeweils einen Saal zu Themen wie Erinnerung, Zugang, Währung. Eine Fülle von medialen Formen macht die Schau auch ästhetisch ansprechend. So sind die Großfotos Linkes als hängende Papierfahnen in großen Holzkästen arrangiert. So bekommen die nüchternen Szenen von Bildexperten, die im Berliner Museum für Naturkunde digitale Bildsätze von präparierten Insekten erstellen, und vom Kabelgewirr im Genfer CERN eine eigenwillige Präsenz. Das Medium ist mitreflektiert.
Am Anfang geht es darum, dass Fotografie eine neue Möglichkeit bot, Daten detailliert und objektiv zu speichern und beliebig zu reproduzieren. Armin Linke ging an einige der Orte, die wie ein Gedächtnis der Menschheit funktionieren. So fotografierte er die imposante Kalksteinfront von Iron Mountain in Pennsylvania, wo sich in einer ehemaligen Kalksteinmine ein Langzeitarchiv befindet, das Daten für 2300 Kunden aufbewahrt, darunter Ministerien, Firmen, Bibliotheken. Im Iron Mountain lagert zum Beispiel das Archiv von Getty Images, einer internationalen Fotoagentur, mit allein mehr als 18 Millionen Objekten. Die Firma GitHub speichert Open-Source Software auf Spitzbergen – nicht auf Servern, sondern auf analogem Fotofilm. Der gilt als sicherstes, stabilstes Medium. Ein Werbevideo zeigt den Weg zum Lager in einer eisigen Wüste. Die Sache mit dem Kapital ist durchaus wörtlich zu verstehen. Bilder, besonders wenn man eine große Menge davon vorhalten kann, haben einen Wert. Damit Fotografen den auch realisieren können, gibt es Firmen wie Copytrack, deren Rechner das Internet durchsuchen und unrechtmäßig genutzte Fotos melden. Ein Werbevideo in der Schau stellt das Angebot vor. Der Wert von Fotos wird auch anders manifest: Kodak hat 2018 die Kryptowährung KodakCoin eingeführt, eine auf Fotografie basierende Alternative zu Bitcoin.
Die Ästhetik eines schaurigen Science-Fiction-Films wählte die Burroughs Corporation 1956, um im Kalten Krieg die Mikrofilmtechnologie als Methode zur Datensicherung im Falle eines atomaren Angriffs anzupreisen. Heute wirkt der Werbefilm „Bombproof“ (Bombensicher), der in Auszügen präsentiert wird, wie eine makabre Vision der Apokalypse. Und vor der EDV stand die platzsparende Buchhaltung mit dem fotografischen System „Rekordak“, das Kodak um 1940 mit Anzeigen bewarb. Auf einem Werbefoto hält eine lächelnde Sekretärin vor Bergen von Lohnschecks eine kleine Filmrolle hoch: Das ganze Papier ist hier gespeichert.
So führt die Ausstellung durch verschiedenste Anwendungen. Armin Linke fotografierte im CERN in Genf, dem größten Teilchenbeschleuniger der Welt, und führte Videointerviews mit Wissenschaftlern. Auch hier ist Fotografie unentbehrlich. Nur mit technischen Bildern lassen sich die Bewegungen der Teilchen visualisieren.
Ein abstrakt wirkendes Foto, das 2019 an der Universität Stuttgart entstand, vermittelt eine weitere Funktion des Mediums. Hier erstellen Ingenieure Konstruktionsfotos von Autokarosserien, die noch nicht existieren. Das Bild legt fest, wie das reale Auto einmal aussehen wird, und der Rechner liefert dazu gleich Daten zum Beispiel darüber, wie viel Material man einsparen kann, wenn der Rückspiegel etwas anders geformt ist. Die Möglichkeiten der Fotografie sind lang noch nicht ausgeschöpft.
Bis 11.12., di – so 10 – 18, do, fr bis 20 Uhr,
Tel. 0201/ 8845 444, www.museum-folkwang.de
Katalog im Internet: www.image-capital.com