Eine Pionierin der Abstraktion: Helen Frankenthaler im Museum Folkwang

Essen – In „Viewpoint I“ feiert die Farbe. Da leuchten Mischtöne, denen man das eigentlich nicht zugetraut hätte, wie Lila, Violett, Braun, sogar Grau. Ja, da sind diese Blitzer: die Striche in Weiß, der schmale grelle Streifen darüber. Aber was wirklich fasziniert in diesem mehr als zwei Meter breiten Gemälde, geschieht daneben, um diese Akzente herum. Mit höchster Finesse brachte Helen Frankenthaler hier Farbe zum Schillern, entfaltete durch das Auftragen immer neuer Schichten ganze Regenbögen auf engstem Raum, eine Fülle von Nuancen, so dass man gar nicht genau sagen kann, welche Lokalfarbe hier vorherrscht. Man kann in diesem 1974 entstandenen Bild eine abendliche Landschaft ausmachen, vielleicht den Blick auf die nächtliche See. Dazu passt der Titel ja, „Aussichtspunkt“. Aber was der Blick hier erkundet, ist reine, abstrakte Malkunst.
Zu sehen ist das Bild im Essener Museum Folkwang. In der Ausstellung „Helen Frankenthaler. Malerische Konstellationen“ ist eine der Pionierinnen der Nachkriegskunst zu entdecken. Lange wurden der abstrakte Expressionismus und die Farbfeldmalerei als reines Männerwerk betrachtet, geschaffen von Heroen wie Jackson Pollock, Morris Louis, Willem de Kooning. In den letzten Jahren füllte der Ausstellungsbetrieb hier weiße Flecken der Wahrnehmung, wurden US-Künstlerinnen wie Joan Mitchell und Agnes Martin vorgestellt. Frankenthaler war in den letzten Jahren in deutschen Museen nicht zu sehen, 1998 gab es eine Ausstellung in Berlin. Dabei gab sie 1952 mit ihrer Soak-Stain-Technik der Malerei eine neue Richtung, als man schon (wieder einmal) glaubte, jetzt sei hier alles geleistet, nach den Tropf-Bildern Pollocks seien die Möglichkeiten ausgeschöpft.
Hier setzt die Essener Ausstellung an, die mit der Kunsthalle Krems erarbeitet wurde, wo die Werke zuerst zu sehen waren. Die meisten Werke stammen aus dem Bestand der Helen Frankenthaler Foundation, aber auch das Museum of Modern Art in New York lieh ein frühes Blatt aus. Zu sehen sind 75 Werke auf Papier und neun Gemälde, die eine wirkliche Retrospektive ergeben von einer frühen Arbeit von 1949 bis zu einer Serie von 2002.
Helen Frankenthaler (1928–2011) wuchs in privilegierten Verhältnissen auf. Ihr Vater war Richter am Supreme Court. Sie hatte schon an der Highschool Unterricht vom mexikanischen Künstler Rufino Tamayo, studierte am renommierten Bennington College in Vermont. 1949 teilt sie sich ein Atelier mit einer Freundin in New York und kommt schnell mit der lokalen Szene in Kontakt. Und die New York School gab nach dem Krieg international den Ton an. Frankenthaler lernte Clement Greenberg kennen, den führenden Kritiker. 1950 hat sie als jüngste Teilnehmerin in der Ausstellung „Fifteen Unknowns“ der Samuel Kootz Gallery ihren Durchbruch. Später vertritt sie die USA bei der Biennale in Venedig, 1959 werden ihre Bilder bei der documenta in Kassel gezeigt.
Die Ausstellung in Essen folgt ihrer Entwicklung chronologisch über sechs Jahrzehnte. Dabei erlebt man, wie schnell sie sich von frühen Einflüssen emanzipiert, sei es der Kubismus, seien es expressive Tendenzen. Schon der flache, dafür fast fünf Meter breite Fries „Ed Winston‘s Tropical Gardens“ (1951), in dem sie den Blick in eine Szenekneipe mit Plastikpalmen in einen abstrahierten Dschungel aus floralen Formen übersetzt, ist ein hinreißendes visuelles Erlebnis. Im selben Jahr entstand „Great Meadows“, ein Aquarell, in dem sie mit Schütt-Techniken experimentiert. Das Papier war für sie mehr als nur Medium für Skizzen, sie verstand das Material dezidiert als Feld für Malerei.
Das gilt auch für die Arbeiten mit Soak Stain, bei denen sie die oft stark verdünnte Farbe direkt auf den unbehandelten Malgrund schüttete. Bei Jackson Pollock standen die Spritzer auf der Malfläche. Frankenthaler ließ Farbe und Malgrund eins werden. Statt der Spuren des wilden Pinseltanzes von „Jack the Dripper“ sieht man in ihren Bildern eine monumentale Ruhe, eine große zeichenhafte Vereinfachung. In „Evil Spirit“ (1963) bleiben weite Partien der Leinwand frei. Die gefärbten Partien wirken naturhaft, kraftvoll. Das Grün und das Braun sind umgeben von feinen Höfen, da drang das Öl aus der Farbe in den Stoff wie ein Schattenrand um die eigentliche Malerei. In der kleinen Papierarbeit „Grotto Azura“ (1963) bildeten sich ähnliche Felder. Hier sieht man auch, wie die Künstlerin nach dem Schütten in die Farbe arbeitete, Binnenstrukturen bildete oder mit kleinen Spritzern einen Akzent setzte. In „Noon“ (1966) setzte Frankenthaler Acrylfarben ein, bei denen es diese Effekte nicht gab.
Von Jahrzehnt zu Jahrzehnt veränderte Frankenthaler ihre Malerei. In den 1970er Jahren wichen die großen, klaren Zeichen auf einer partiell unbehandelten Fläche einem All-Over, wo sie einen Grundton durch Schichten und Überlagern variiert. Da entstanden Bilder wie das Blatt #1 aus der „Almost August Series“ (1978), wo ein Rose-Braun sich zu einer schlierigen Unschärfe entwickelt. Dann wieder führt sie in den „Pink Palace“ (1978), wo die Architektur aus horizontal verschmierter Farbe streckenweise transparent wird. Sie verabschiedet sich von allen Regeln. In „Summer Bronze“ (1983) verpasst sie den grünen Strukturen einige Linien aus metallisch strahlendem Braun. Und dann wieder setzt sie in „Untitled“ (1984) einfach einige weiße horizontale Wischer auf getöntes Papier. Die späten, ungewöhnlich großen Blätter wirken fast monochrom, haben eine monumentale Flächigkeit.
Frankenthalers Malerei spricht den Betrachter unmittelbar an. Diese lyrische Abstraktion, diese Verliebtheit in Farbwirkungen, diese Lust auf Veränderung teilt sich mit. So ist die Essener Schau nicht nur eine kunsthistorische Bereicherung, sondern auch ein großer Sehgenuss.
Bis 5.3.2023, di – so 10 – 18, do, fr bis 20 Uhr,
Tel. 0201/ 8845 444, www.museum-folkwang.de
Katalog, Verlag der
Buchhandlung Walther
und Franz König, Köln, 29,80 Euro