Das Fragwürdige der Situation hat der antike Dichter sicher bewusst herausgearbeitet. Welchen Wert hat das Überleben, wenn es den Tod eines anderen voraussetzt? Götter, die so schenken, sind Versager. Daraus schlägt Simons wiederum einen grandiosen Witz, der den Ernst der Situation noch im lächerlichsten Ambiente respektiert.
Das Stück spielt auf dem Campingplatz, vor einem etwas angeranzten Wohnwagen mit Plastikstühlen und Bierkästen, und nur mit dem kaum merklich vorbeiziehenden glänzenden Steg deutet Bühnenbildner Johannes Schütz an, dass hier Existenzielles verhandelt wird, der Zeiger der Schicksalsuhr schreitet voran. Steven Scharf verleiht dem Admetos mit struppiger Hippiemähne das schmierige Flair des Edelprolls. Und der Schauspieler treibt die Widersprüche seiner Figur auf schwindelerregendes Niveau. Gerade noch wälzt er sich notgeil mit seiner Frau herum, dann greint er, dass ohne sie sein Leben nichts mehr wert sei, dass sie ihn mitnehmen solle, und man fragt sich, wer ihn zwingt, das Opfer der Alkestis anzunehmen. Da steht ein schwacher Mann, der vergeblich versucht, sein Leben im Griff zu behalten. Dabei reizt Scharf die Stimmungswechsel aus, drückt sich Tränen heraus, geifert und schreit, was seiner Trauer den Ernst, die Überzeugungskraft nimmt. Er ruft seine Kinder zu sich, aber die klammern sich lieber an der Mutter. Es ist hinreißend, wie Scharf die gestischen Dissonanzen zuspitzt, das große Pathosbesteck der Tragödie einem so unangenehmen, so schmerzlich banalen Menschen anpasst, dass es doch rührt.
Anne Rietmeijer in der Titelrolle ist kongenial, schon wenn sie ihre Bedingungen ausspricht. Aber ihr Abgang ist ein Höhepunkt. Simons arbeitet mit Musik, lässt Passagen aus Glucks Oper „Alceste“ von einem Quartett aus Sopranen und Mezzosopranen zu Orgelbegleitung vortragen. Eine sakral gestimmte Interpretation des antiken Chors, auch wenn die Sängerinnen manchmal die Hüfte schwingen. An einigen Schlüsselstellen aber setzt die Inszenierung mit Pop emotionale Schlüsselreize. Vor ihrem Tod erklingt Vicky Leandros‘ Schlager „Ich liebe das Leben“, und Rietmeijer übersetzt diese Botschaft in einen nicht enden wollenden, immer ekstatischeren Tanz, umschmeichelt ihre Kinder, und wenn man glaubt, dass sie sich in den bereitstehenden Sarg legt, springt sie wieder nach vorn für eine weitere Runde.
Selten wurde Ausweglosigkeit so physisch abgebildet. Auch Scharf hat eine Tanzeinlage, bei der er Stuhlschwingend herumhüpft wie der Duracell-Hase, ausgerechnet zu „God Only Knows“ von den Beach Boys. Nichts wissen die Götter hier. Der so schaurig maskierte Tod (Lukas von der Lühe) kommt ja auch nicht voran, weil sein alter Amischlitten-Leichenwagen streikt. Da muss geschraubt werden. Und Herakles, der unbezwingbare und allzeit zur guten Tat bereite Sohn des Zeus, wird von Pierre Bokma als biederer Wandergesell mit schepperndem Blechgeschirr am Rucksack gemimt. Seine Heldentaten sehen wir nicht, aber er knutscht mit der Amme (Elsie de Brauw). Gewiss, er bringt Alkestis zurück. Aber diese Wiedervereinigung bedeutet keine Heilung. Zu viel Schmerz wurde den Liebenden zugefügt. Die Sprachlosigkeit hier kann man mit Kleists „Amphitryon“ vergleichen, wo das Glück des Endes auch sehr fraglich ist.
Großer Jubel für die Koproduktion mit dem Epidaurus Festival, die in Athen im Juli Premiere hatte. Außerdem überreichte Franz Wille von der Zeitschrift Theater heute die Urkunde zur Auszeichnung des Schauspielhauses als Theater des Jahres 2022.
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