Pauwels hat vor vier Jahren in Bochum mit dem szenischen Essay „Der Hamiltonkomplex“ das Publikum verzaubert. Damals ging es um die Transformation von Mädchen in der Pubertät. Formal teilt „Baroque“ vieles mit diesem Abend. Auch hier gibt es eine Mischung aus Poesie, Musik, Bildern, Bewegung, nicht in eine Handlung eingebunden, sondern assoziativ dahinströmend. Die Bühne von Ausstatterin Johanna Trudzinski ist mal ein strenger sakraler Raum auf dem schwarz-weißen Fliesenmuster, mal eine vor visuellen Reizen überquellende Wunderkammer, durch die eine ausgestopfte Kudu-Antilope geschoben wird und Berninis Skulptur „Raub der Proserpina“, ein Leuchtschrank, eine Leiter, und in der es Blumen regnet, die dann wieder beiseitegefegt werden müssen. Ein Vorhang wird aufgezogen und entfaltet sich als monumentale Vergrößerung eines Obststilllebens.
Pauwels beschränkt ihre Vorstellung des Barocken nicht auf die Körperlichkeit. Der Abend bietet viele Deutungen an, zielt auf viele Sinnebenen. Er handelt ebenso vom Bewusstsein der Vergänglichkeit, vom Streben nach Überfluss, von Verschwendung und Depression. Hier wird nicht erzählt, hier werden Bilder übereinander gelegt zu einer vieldeutigen szenischen Collage. Vielleicht berührt das Lebensgefühl des Barock ja unsere Gegenwart, die mit Seuchen, Krieg, Naturkatastrophen, Angst und Lebensgier auch Extreme umspannt.
Zwischendurch rollen sie ein Podest ein, auf dem Akteure posieren. „Homo“ steht darauf, Mensch, und sie ergänzen den Begriff später mal mit „monstrosus“, mal mit „melancholicus“, mal mit „.com“. Nichts weniger als die menschliche Existenz wird verhandelt. Mourad Baaiz fasst seine Ratlosigkeit in die Frage: „Was mache ich hier eigentlich?“ Jing Xiang badet ihr Antlitz in Blut und überschreit ein dröhnendes Requiem mit blutigen Visionen von Schlachthaus, Krieg, Drogenkriegen, Blutorangen, Blutwurst. Jede Emotion kann unvermittelt in Ironie umschlagen.
Sie schieben sich auf einer Schubkarre über die Bühne oder ziehen sich auf einer Stoffbahn. Sie beißen in einer Szene in Äpfel wie im biblischen Paradies, Jasmin Schafrina trägt zwei künstliche Früchte vor der Brust. Später setzt William Cooper sie auf die Schaukel und bringt sie in Bewegung und sie bettelt einfach nur, dass es aufhört. Dann wieder erklingt der 1970er-Hit „Stuck In The Middle With You“ und alle tanzen ausgelassen. Pauwels richtet ein Wechselbad der Gefühle an, von Henry Purcells Lob der Einsamkeit zum berühmten Vanitas-Sonett von Andreas Gryphius. Immer wieder tritt Ann Göbel an den Bühnenrand, mal als Engel, der von Las Vegas schwärmt, mal als nölige Influencerin, die dem Schwarzwald keinen Stern gibt, weil er einfach nur Bäume bietet, was viel zu langweilig ist. Jing Xiang legt ein üppiges Kleid ab und hängt sich in die große Leiter. Der schmerzhaft circensische Tanz von Strebe zu Strebe soll vielleicht die Labilität des Lebens demonstrieren. Vielleicht geht es auch nur um die Lust am Risiko. Wenn sich die dicken Frauen wehren, entwickeln sie mächtig Druck wie Eva-Maria Diers und Kathrin Brüggemann in einem wütenden Monolog, den sie von Wort zu Wort wechselnd hinausbrüllen: „Dicke Menschen sind manchmal sehr sensibel!“
Es gibt durchaus auch Raum für Zwischentöne. William Cooper singt den Schlager „Blue Velvet“ zu Playback, und seine heitere Karaoke-Schau lädt er nach und nach mit Emotionen auf, bis seine Stimme zu brechen droht, er ringt mit Tränen und fasst sich mühsam. Auch das ist barock: Das Triviale kann sich verwandeln zum großen Drama.
Dieser Bilderbogen lässt sich nicht in Thesen fassen. Aber er berauscht, überwältigt, schmeichelt mit sinnlichen Szenen, wie man sie selten erlebt. Am Ende robben alle in einer Reihe mühsam vor zum Bühnenrand. Beschädigte, die einfach nicht aufgeben. So schwer ist das Theater. So schwer das Leben.
20., 24.5., 5., 6.6., Tel. 0234/ 3333 5555, www.schauspielhausbochum.de