Fridays for future ist ebenfalls dabei, wenn sich der mächtige Braunkohlebagger immer weiter durchs Gelände gräbt. Mitglied David Adelmann ist aus Düsseldorf angereist und schießt Fotos. Die Bilder sind spektakulär. Schaufelradbagger zählen zu den größten Baggern der Welt. So ein Gefährt wiegt mehr als 12 000 Tonnen, ist fast 100 Meter hoch und kann bis zu 240 000 Tonnen Kohle täglich ausbaggern. Das Schaufelrad hat einen Durchmesser von 21 Meter – so nah kommen auch wir dem Monstrum. Das hier ist eben keine normale Baustelle, auch wenn ständig Lkw hin und her fahren. Die Szenerie mit Bauarbeitern, Medienvertretern, Aktivisten und Polizisten ist surreal.
Ruth kommt mit dem Bollerwagen an uns vorbei. Sie ist Mitglied der Gruppe Hambi Support. Hambi – das ist der Hambacher Forst, der 2018 mit dem größten Polizeieinsatz in der Geschichte Nordrhein-Westfalens geräumt wurde und jetzt doch nicht mehr abgebaggert wird. Ihren Nachnamen verrät Ruth nicht, sie ist Ende 50 und kommt aus Belgien. 40 Kilometer ist sie gefahren, um den Aktivisten Trauben, Bananen und anderes Essen zu bringen. „Das haben wir containert“, erzählt sie, wohlwissend, dass es eigentlich nicht erlaubt ist, weggeworfene Waren mitzunehmen. Was bringt sie sonst noch den Aktivisten hier vor Ort? Gemüse, Dosenöffner und Gaskocher, aber auch aufgeladene Powerbanks und Laptops. Der Kampf ums Klima wird eben auch online aus den Baumhäusern und Holzbarraken hier in Lützerath geführt.
„Cops töten“ hat jemand auf die Hauswand des Duisserner Hofs geschmiert. Der letzte Landwirt von Lützerath hat das Gehöft mit der Denkmalplakette längst verlassen, jetzt sind vor allem junge Menschen hier. Aktivisten nennen sie sich. Für manche sind sie Klimahelden, für andere nur Kriminelle. Die meisten haben ihr Gesicht verdeckt, wollen nicht fotografiert werden. „Ich fotografiere dich auch nicht in deinem Garten“, klärt uns einer der dunkel gekleideten Männer auf. Bizarr, hält er sich gerade doch selbst auf fremden Grund auf. In einer Halle, wo früher Heu für Tiere gelagert wurde, stapeln sich Autoreifen. Sie dürften Futter für brennende Barrikaden werden. Einige Aktivisten üben das Klettern in Bäumen oder malträtieren mit einer Spitzhacke die Straße – so soll die Räumung erschwert werden.
Lützerath ist groß in den Schlagzeilen, aber kleiner als ein Dorf: Die Siedlung liegt zwischen Düsseldorf, Köln und Aachen, nahe Mönchengladbach. Wie viele andere Dörfer im Rheinischen Braunkohlerevier ist auch Lützerath schon sehr alt. Erstmals wurde es 1168 urkundlich erwähnt, die Ursprünge gehen aber wahrscheinlich noch deutlich weiter zurück.
2005 wurde im Braunkohleplan festgelegt, dass Lützerath RWE und der Kohlegewinnung weichen soll. Ein Jahr später wurden die ersten der rund 100 Einwohner entschädigt und zogen weg. Ab diesem Zeitpunkt sank die Zahl derer, die Lützerath ihr Zuhause nannten, stetig.
Der letzte Einwohner war der Landwirt Eckardt Heukamp. Er lebte auf dem denkmalgeschützten Duisserner Hof, der seit dem 13. Jahrhundert an dieser Stelle existierte. Heukamp hatte sich juristisch lange gegen RWE gewehrt. 2022 ging der Duisserner Hof dann aber in den Besitz von RWE Power über. Im März 2022 gab das Oberverwaltungsgericht in Münster die Überreste von Lützerath zum Abbaggern frei. Kurz nach dem Urteil, im April 2022, nahmen mehrere Tausend Demonstrierende an einer Demo in Lützerath teil. Im Oktober verließ Eckardt Heukamp den Hof als letzter Einwohner von Lützerath. Seinen Hof hatte er zwischenzeitlich an Aktivisten untervermietet, die jetzt in Lützerath als Besetzer leben.
Lützerath gehört zum Abbaugebiet Garzweiler II. Im August 1987 reichte die Rheinbraun AG beim Bergamt Köln einen Rahmenbetriebsplan für einen Braunkohletagebau „Garzweiler II“ im Feld Frimmersdorf-West-West zur Zulassung ein. Nach diesen Planungen sollen mehr als 11 000 Menschen in 19 Ortschaften umgesiedelt werden.
Im Dezember 1997 erteilt das Bergamt Düren die Zulassung für den Rahmenbetriebsplan Garzweiler I/II für den Zeitraum 2001 bis 2045. Im Juli 2020 bestätigt der Bundestag die energiepolitische Notwendigkeit von Garzweiler II. Im Oktober 2022 einigen sich Bund, Land und RWE auf einen Kohleausstieg bis zum Jahr 2030. Im Dezember 2022 genehmigt die Bezirksregierung Arnsberg den RWE-Antrag auf Zulassung eines Hauptbetriebsplanes von 2023 bis 2025. Dieser sieht das vor, was nun passieren soll: das Ende der Siedlung Lützerath.
Keine Probleme mit Fotos von sich hat Gary Evans. Der 58-Jährige aus Aachen spricht mit amerikanischem Akzent. „Fucking crazy“ sei das, was hier passiere. Der Kohlekompromiss sei ein fauler Kompromiss. Zwar sei der Ausstieg aus der Kohle um acht Jahre auf 2030 vorgezogen worden, doch „die Menge an Kohle bleibt gleich“. Evans hofft, dass noch mehr Demonstranten kommen, um Druck zu machen. Alles, was über 1,5 Grad Erderwärmung liegt, führe in ein „climate disaster“, oder wie er auf Deutsch anfügt „uns alle zu Tode“. Von den schwarz vermummten Aktivisten grenzt sich Evans ab. Cops, also Polizisten, seien keine „Bastards“. „Das sage ich nicht“, betont er. Ihnen zu trauen, falle ihm jedoch schwer. Er habe so seine Zweifel, dass die Mahnwache tatsächlich noch bis zum 9. Januar in Lützerath bleiben darf und erst dann geräumt wird. „Das ist jetzt schon sehr militaristisch hier.“ Deshalb habe man den Tag X für den Widerstand ausgerufen.
Cornelia Senne tritt mit einem Holzkreuz den Polizisten entgegen. Die 59-Jährige steht mit einer Gruppe von Aktivisten nahe der Abbruchkante – dem großen Bagger gegenüber. Sie demonstriert friedlich gegen „das Maß an Zerstörung und Gewalt“. Wenn die Räumung beginnen sollte, werde sie sich in der „Eibenkapelle“ von Lützerath aufhalten, beten und singen. Es ist eine kleine Umfriedung, kein Gebäude. Senne gehört der Gruppe Die Kirchen im Dorf lassen an und kommt seit drei Jahren regelmäßig aus der Eifel ins Braunkohlerevier. „Hier werden Lebensräume vernichtet“, klagt sie an. Begonnen habe es hier mit Bärbel Höhn als NRW-Umweltministerin in den 1990er Jahren. „Und jetzt bringen es die Grünen zu Ende“, sagt sie enttäuscht über die Partei, die in Düsseldorf und Berlin mitregiert.