Viele Politiker sagen angesichts der Aktionen von der „Letzten Generation“ und anderen: Die Versammlungs- und Meinungsfreiheit enden dort, wo das Strafrecht beginnt. Ist das falsch?
Tim Achtermeyer: Die Aktivisten fordern demokratische Handlungen ein. Das ist zunächst einmal ein urdemokratischer Zug. Natürlich gilt gleichzeitig das Strafrecht. Das schließt sich nicht aus. Was sich aber ausschließen sollte, ist die Verknüpfung eines gesellschaftlichen und eines juristischen Urteils. Dafür haben wir die Gewaltenteilung mit einer unabhängigen Justiz.
Sie haben in einem Gastbeitrag für eine Zeitung geschrieben: Der Rechtsstaat muss radikalen Klimaprotest aushalten. Kartoffelbrei auf Kunstwerke, Luftrauslassen aus Autoreifen, Autobahnen und Landebahnen blockieren – ist das also alles okay?
Tim Achtermeyer: Das Strafrecht muss angewendet werden. Das nehmen die Aktivisten ja auch offenkundig in Kauf. Man darf wegen dieser Proteste jedoch nicht die Gewaltenteilung aufweichen, indem Politiker fordern, Klimaaktivisten vorsorglich in Haft zu nehmen. Darüber mache ich mir Sorgen. So wie die Klimaaktivisten mit der Antwort des Rechtsstaates rechnen müssen, so müssen wir damit leben, dass diese Aktivisten ihre Meinung und ihre Forderungen laut mitteilen.
Es ist also falsch, präventiv gegen die Blockade von Autobahnen oder Flughäfen vorzugehen?
Tim Achtermeyer: Die Präventivhaft wurde für islamistische Gefährder eingeführt, um Menschenleben vor potenziellen terroristischen Handlungen zu schützen. Und selbst das ist freiheitsrechtlich ein heikler Eingriff. Das allgemeine Strafrecht sanktioniert dagegen versuchte oder begangene Handlungen. Präventivhaft für Klimaaktivisten ist nicht verhältnismäßig. Die Präventivhaft darf nicht als Maulkorb missbraucht werden.
Sind denn die möglichen Strafen für Klimaaktivisten angemessen?
Tim Achtermeyer: Das entscheiden am Ende die Gerichte. Es gibt Strafkorridore, in denen sich die Urteile bewegen. Es ist nicht meine Aufgabe, jetzt darüber zu diskutieren, ob die Strafen für diese Aktionen angemessen sind. Das muss man in Ruhe und mit zeitlichem Vorlauf tun. Ansonsten besteht die Gefahr, dass man Strafrahmen politisch motiviert festlegt.
Man könnte aber die Abschreckung erhöhen?
Tim Achtermeyer: Grundsätzlich: Strafrechtsverschärfungen lösen keine gesellschaftspolitischen Diskurse oder gar politische Kontroversen. Zwar geht es im Strafrecht auch um Abschreckung oder um die repressive Funktion. Es geht aber auch um die präventive und expressive Funktion, also was ein Staat für Signale aussenden möchte. Die Antwort des Staates muss natürlich darin liegen, dass das Recht umgesetzt wird. Aber die Antwort der Politik muss sein, dass wir gemeinsam über Klimapolitik reden und keine vorschnellen Debatten über die Strafrechtsverschärfung führen.
Ina Scharrenbach hat die Blockierer auf dem Berliner Flugplatz auf Twitter als „Vollpf...“ betitelt. Ausgeschrieben hatte sie das Wort nicht, aber es war klar, was gemeint war. Ist ein solcher Ton seitens einer Ministerin hilfreich?
Tim Achtermeyer: Ich habe es so wahrgenommen, dass Ina Scharrenbach privat getwittert hat. Die Landesregierung twittert jedenfalls so nicht über die Demonstrierenden.
Ina Scharrenbach war aber dienstlich als CDU-Bauministerin mit dem Flieger zu einer Konferenz nach Berlin unterwegs.
Tim Achtermeyer: Ich rate uns allen, dass wir einen vernünftigen Dialog über Klimapolitik führen.
CDU-Innenmister Herbert Reul will konsequent gegen Linksextremisten vorgehen, die unter dem Deckmantel Klimaprotest agieren. Hat er Ihre Unterstützung?
Tim Achtermeyer: Herr Reul hat immer meine Unterstützung, wenn es darum geht, die Verfassung zu schützen und unsere Gesellschaft vor Menschen zu schützen, die verfassungswidrig handeln. Von der Gruppe, über die der Minister theoretisch spricht, habe ich jedoch praktisch nichts wahrgenommen. Falls es aber so sein sollte, gehe ich davon aus, dass auch die Bewegung sich von diesen Menschen distanziert.
Warum ist radikaler Protest in Lützerath nicht okay?
Tim Achtermeyer: Radikaler Protest in Lützerath ist okay, wenn er friedlich ist. Dann ist es ein Ausdruck von Meinungsfreiheit und von Widerspruch. Und ich kann die Enttäuschung der Demonstrierenden auch gut nachvollziehen. Denn auch ich hätte mir gewünscht, Lützerath zu erhalten. Doch wir mussten die Realität anerkennen und eine Lösung finden. Und wir haben eine gute Lösung gefunden. Wir konnten fünf Dörfer vor dem Abriss bewahren, 500 Menschen die Zwangsumsiedlung ersparen und werden bis zum Jahr 2030 sicher aus der Kohle aussteigen. Auch wenn ich und meine Partei in der Frage Lützerath und der energiewirtschaftlichen Notwendigkeit, das Dorf abzubaggern, eine andere Meinung haben als die Aktivisten und Aktivistinnen, streiten wir am Ende doch für dieselbe Sache, nämlich Klimaschutz.
Müssten Sie nicht gerade deshalb als Grünen-Landeschef den Aktivisten sagen: „Wenn geräumt wird, fände ich es klug und richtig, wenn ihr das Dorf verlasst.“?
Tim Achtermeyer: Das werde ich dann auch tun. Ich kann alle Beteiligten nur dazu aufrufen, zu einer Deeskalation der Lage beizutragen. Damit meine ich die Aktivisten und Aktivistinnen, aber natürlich auch Innenministerium und Polizei. Dabei geht es auch um eine Kommunikation vonseiten der Polizei gegenüber den Demonstrierenden.
Ihre Vorgängerin Mona Neubaur hat im Herbst 2021 für den Erhalt von Lützerath demonstriert. Jetzt ist sie Wirtschaftsministerin und ist für die Räumung. Finden Sie, dass die Grünen an dieser Stelle glaubwürdig sind?
Tim Achtermeyer: Das Oberverwaltungsgericht Münster hat entschieden, dass Lützerath für den RWE-Tagebau abgebaggert werden darf. Da wir Gerichte ernst nehmen, hat auch Mona Neubaur danach nicht mehr solche Demonstrationen besucht, weil spätestens dann für uns klar war, dass der Erhalt von Lützerath damit nicht mehr nur eine Frage des politischen Willens war. Neu in der Regierung mussten wir uns folgende Frage stellen: Wie können wir möglichst flächenschonend vorgehen und wie können wir möglichst gut und schnell aus der Braunkohleverstromung aussteigen. Das Ergebnis ist, dass wir den Kohleausstieg im Rheinischen Revier um acht Jahre vorzuziehen auf 2030. Das ist ein Erfolg. Lützerath ist dabei ein schmerzlicher Schatten, ohne Frage – aber der Kompromiss, den wir mit der Realität eingehen müssen.
Haben Sie Verständnis für die Enttäuschung mancher Grünen-Wähler wegen der Entscheidung Lützerath?
Tim Achtermeyer: Ja. Es schmerzt auch mich, dass die Siedlung abgebaggert werden muss. Doch der dafür notwendige Ausbau der erneuerbaren Energien wurde über Jahre verschlafen. Das gilt es jetzt nachzuholen und dafür hat die schwarz-grüne Landesregierung bereits erste Maßnahmen auf den Weg gebracht: mehr Flächen für Solarenergie, die Umsetzung des Wind-an-Land-Gesetz und die Erleichterung von Windenergie auf geeigneten Wald- und Gewerbeflächen.